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Das Theater der Zukunft

Der Vorhang geht auf und dahinter ist etwas völlig anderes

So war es und so wird es nie wieder sein Christian Buddenbrook aus Thomas Manns brillanten Superbuch „Die Buddenbrooks“ ist ein leichtfertiger Tunichtgut mit einem ausgeprägten Sinn für das Theater, dem er letztlich gänzlich verfällt. Die literarischen Beschreibungen der lübschen Theaternächte um 1850 strotzen vor Lautheit, Geschwätz und Getränk, Emotionen und Liebeleien satt, also tollen Partys – und zwar im Publikum und zwar während des Stücks. Das Theater war keine erlauchte Leitkultur für wenige, sondern ein Riesenspaß für alle und der Zuschauer ein elementarer Teil dessen. Wo ist das heute geblieben? Wie kommen wir da wieder hin? Die Antworten darauf kennt vielleicht am ehesten jemand vom Fach. Wir haben die Theater-Macherin und Regisseurin Helgard Haug vom Rimini Protokoll getroffen und befragt.

Portrait Rimini Protokoll
Das Rimini-Protokoll: Stefan Kaegi, Helgard Haug, Daniel Wetzel © David von Becker

Das macht eine postdramatische Theatergruppe

Helgard über das Rimini Protokoll

Die Faszination der Realität Rimini Protokoll setzt auf Laiendarsteller, sogenannte „Experten der Wirklichkeit“. Die Künstler bezeichnen sie auch als „Spezialisten“. Diese führen keine Dramen auf, sondern spielen sich in den Theaterstücken, Radio-Features und Filmen selbst, anhand individuell für sie erarbeiteter Texten. Dieser Realismus wird auch angewandt für die Spielorte des Öffentlichen Raumes oder Orte, an denen gewisse Theater-ähnliche Regeln gelten, wie Gerichte, Verwaltungen oder Parlamente. So war ein aufsehenerregender Coup die Kopie einer vollständigen Parlamentssitzung des Deutschen Bundestags: Deutschland 2

Deutschland 2 von Rimini Protokoll
Deutschland 2 von Rimini Protokoll © David Becher

Die eigene Realität aus einem neuen Blickwinkel

Helgard über die Rolle des Zuschauers der Zukunft

DO's & DON'Ts - Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt Wir trafen Helgard Haug bei ihren Proben zur Rimini-Protokoll-Produktion DO's & DON'Ts auf Kampnagel anlässlich des Internationalen Sommerfestivals 2018. Der Alltag auf den Straßen wird hier zu einem gigantischen Theater, was es im Grunde auch ist: Jeder Verkehrsteilnehmer spielt eine Rolle und hält sich an bestimmte Regeln und Gesetze – oder auch nicht. Die Zuschauer haben die einmalige Gelegenheit, dieses Schauspiel still und heimlich zu genießen und zu hinterfragen. Wie das funktioniert, beschreibt die Regisseurin Helgard Haug.

DO's & DON'Ts - Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt
DO's & DON'Ts - Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt © André Wunstorf

Dort, wo die Schweinehälften hingen

Helgard über DO's & DON'Ts in Hamburg

Wem gehört die Stadt? Im Theater spürt man häufig ein gewisses Missverhältnis zwischen der politischen Radikalität auf der Bühne und der behüteten Realität der Zuschauer. Die Revolution endet, wenn der Vorhang fällt. Bei DO's & DON'Ts verschwindet das Schauspiel nicht nach Ende der Fahrt, sondern bleibt Realität. Somit kann das Stück eine Initialzündung für den Zuschauer für eine nachhaltige Bewusstseinserweiterung sein.

DO's & DON'Ts - Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt
DO's & DON'Ts - Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt © Anja Beutler

Widersprüche nutzbar machen

Helgard über die politische Bildung des Theaters

Kritik am konventionellen Theater Rimini Protokoll inszenieren nicht nur auf der Straße oder auf dem Amt, sondern durchaus auch an den großen Schauspielhäusern. Diese Inszenierungen sind auch als eine konstruktive Kritik am Berufstheater und seinen Konventionen zu verstehen, hier erleben wir wieder eine Interpretation von Mensch und Ort. In „100% Zürich – eine statistische Kettenreaktion“ spielen 100 echte Zürcher auf der Bühne, die vor Ort in einer Kettenraktion ausgewählt werden: die Regisseure wählen den erste Teilnehmer aus, dieser bestimmt den nächsten Teilnehmer, der zweite einen weiteren, „bis 100 Zürcher beisammen sind, die „100 Prozent Zürich" glaubhaft spielen können.“

100% Zürich © Pigi Psimenou

Den Zuschauer ernst nehmen

Helgard über wasserdichte Kunstfertigkeit

Das Spiel mit den Konventionen Das Theater der Zukunft wird ohne Zweifel immersiver, sei es durch Technik oder ungewohnte Orte. Bestimmte klassische Konventionen des Theaters müssen dafür erhalten bleiben, Helgard Haug nennt z.B. Ruhe und Konzentration. Die Frage ist, wie weit man mit den Konventionen spielen möchte, um Neuland zu betreten und wirklich neue Geschichten zu erzählen. Ein gute Beispiel ist das Augmented-Reality-Projekt „Situation Room – ein Multi Player Video-Stück“

Situation Room – ein Multi Player Video-Stück
Situation Room – ein Multi Player Video-Stück © Rimini Protokoll

Der Vorhang geht auf und dahinter ist etwas völlig anderes

Helgard über das Theater der Zukunft

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